Leseproben
Hoesch Chemielabor
Zwischen Bier und Martin-Ofen
aus: werkpool 1/2006, Hrsg. werkpool GbR
Das heutige Gelände des Union Gewerbehofs ist äußerst geschichtsträchtig. Der Historiker Matthias Dudde hat nachgeforscht.
Anstatt PCs standen in den Büroräumen des heutigen Union Gewerbehofs Mikroskope, und anstatt E-Mail gab es eine Rohrpost. Deren verrostete Reste sind noch heute über dem Parkplatz am Bahndamm zu sehen. Benutzt wurde die Rohrpost für eine kontinuierliche Prozesskontrolle bei der Herstellung von Stahl im Werk gleich nebenan. Alle 20 bis 30 Minuten kam eine noch warme Stahlprobe durch die Rohre zum Labor. Die Chemiker hobelten Späne von der Probe und bestimmten innerhalb von zwei Minuten den Anteil von zehn Elementen. Per Fernschreiber schickten sie ihre Ergebnisse über die Zusammensetzung direkt zurück an den Siemens-Martin-Ofen, in dem das Roheisen geschmolzen wurde.
Dort, wo heute unter anderem die Verwaltung des Union Gewerbehofs ihren Sitz hat, befanden sich die chemischen und metallkundlichen Labore. Durch einen Übergang war das Hauptgebäude mit den Werkstätten im Seitenflügel verbunden. Hier waren eine Dreherei und eine Schlosserei untergebracht, wo verschiedenste Proben zugerichtet wurden. Im Erdgeschoss des gegenüberliegenden Seitenflügels standen große Prüfmaschinen, daher die höheren Decken. Mit Zerreißmaschinen und Hämmern wurde der Stahl hier auf seine Tauglichkeit getestet.
In den Büros darüber gingen die Labormitarbeiter mit Mikroskopen und kleinen Messgeräten ins Detail. Einer, der von 1969 bis 1983 regelmäßig zur Versuchsanstalt kam, war Willi Warda. "Da vorne bin ich mal in die Rabatten gerauscht", sagt Willi und deutet auf die gemauerte Toreinfahrt des Union Gewerbehofs. Willi war in der Fahrbereitschaft von Hoesch und transportierte mit seinem LKW kleine und große Fracht zwischen den Stahlwerken und der damaligen Versuchsanstalt hin und her.
Seinem alten Arbeitsplatz ist Willi bis heute verbunden geblieben. Er bewohnt das letzte Haus einer Reihe von kleinen Arbeiterhäusern in der Bessemer Straße gleich hinter dem Union Gewerbehof. Alle anderen Häuser in der Straße mussten in den 1960-er Jahren einer riesigen grünen Halle weichen. Entstanden waren sie bis zur Jahrhundertwende, und laut dem "Dortmunder Adressbuch für 1894" wohnten dort Arbeiter, Bergleute und Tagelöhner, die oft vier bis fünf Mietparteien in einem Haus bildeten.
Zu der Zeit, als Willis Haus gerade gebaut wurde und an den umliegenden Straßen nach und nach Häuser entstanden, blieb das Gelände des heutigen Union Gewerbehofs lange eine grüne Wiese. Erst nach der Jahrhundertwende begann die Nutzung auf dem südlichen Teil der Freifläche. Die Glückauf Brauerei siedelte sich an, die in den 1920-er Jahren den Namen Bürgerbräu trug und ab 1936 zur Großbrauerei Thier & Co. Dortmund gehörte. Vermutlich im Zweiten Weltkrieg wurde die Brauerei aufgegeben, doch als Willi Warda mehr als ein Vierteljahrhundert später mit seinem LKW regelmäßig zur Huckarder Straße fuhr, waren noch immer große Mengen Leergut in Kellern zu finden.
Auf dem nördlichen Teil der Fläche errichteten um 1920 die Gebrüder Brackmeyer Fabrikräume und ein Bürohaus für ihre Westdeutsche Elektro AG. Schon vier Jahre später, 1924, mussten die Gebrüder weichen. Dabei ist offen, ob sie wegen unternehmerischen Misserfolgs das Gelände verließen oder wegen des Drucks des wirtschaftsstarken Stahlherstellers Unionwerk. Der war auf der Suche nach einer Ausweichfläche für sein Laboratorium. Das nahe gelegene Grundstück an der Huckarder Straße war dazu bestens geeignet.
Ab 1951, nachdem auch die Brauerei das Gelände verlassen hatte, gehörte die gesamte Fläche zur neu formierten Dortmund-Hörder Hüttenunion AG. Aus dieser Zeit stammt das verglaste Pförtnerhaus direkt am Eingang des Union Gewerbehofs. Neben dem Laboratorium mit seinem Innenhof betrieb die Hüttenunion und später auch Hoesch in den Gebäuden der ehemaligen Brauerei ihre Forschungseinrichtung. Im heutigen Zentrum für Gehörlosenkultur und im gegenüberliegenden Magazingebäude waren Verwaltungsbüros und Forschungseinrichtungen untergebracht, unter anderem ein Chemikalien-Labor, eine Glasbläserei und ein so genanntes Steinlabor für feuerfeste Materialien. Auf der Rückseite des Magazingebäudes ist ein Anbau, in dem sich in der ersten Etage eine Versuchsschmelzanlage mit Ofen befand. Die hier gegossenen Stahlproben transportierte Willi mit seinem LKW ab.
Noch heute finden sich auf dem Gelände zahlreiche große und kleine Spuren der damaligen Nutzung, wie zum Beispiel ein zum Blumenkübel umfunktionierter Säurekübel hinter dem Magazingebäude unterhalb der Rampe. Und ein Stück neues Mauerwerk am Pfeiler des Eingangstores erinnert an Willi Wardas unglückliches Fahrmanöver.
Matthias Dudde
Der Autor bedankt sich herzlich bei Willi Warda, Prof. Dr. Knut Ohls und dem Thyssen-Krupp Konzernarchiv, Außenstelle Hoescharchiv.